Demnächst erscheint „Digitaler Puls“, eine ganzheitliche Analyse der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen, die ich zusammen mit Luisa Wasilewski geschrieben habe. In dieser kurzen Artikel-Serie stelle ich aus dem Buch drei Fallbeispiele von Marktentwicklungen vor, die gerade in der Corona-Krise besonders aktuell sind und die drei Säulen der sich abzeichnenden Infrastruktur für Digital Health in Deutschland darstellen.
Zudem verdeutlichen diese Beispiele unsere Kernthese: dass sich Patienten zu Gesundheitskunden wandeln, die Konsumgewohnheiten und -erwartungen auf Gesundheitsleistungen übertragen. Im ersten Artikel ging es dabei um den Online-Handel und das E-Rezept; im zweiten um die elektronische Patientenakte. In diesem letzten Fallbeispiel beschäftigen wir uns mit der Software, die in Arztpraxen und bei Krankenversicherern verwendet wird.
Fallbeispiel Nr. 3: Software bei Leistungserbringern
In diesem Fallbeispiel handelt es sich um einen jungen Berufsanfänger namens David Schneider. Er hat vor einigen Monaten seine ersten Stelle in einer neuen Stadt bekommen. Den Umzug und den Start in den Arbeitsalltag hat er gut hinbekommen. Eigentlich fehlt ihm nichts: Er ist kerngesund, geht regelmäßig ins Fitness-Studio und hat sogar schon eine Fußballmannschaft gefunden. Nur hat er an einer ziemlich peinlichen Stelle einen roten Hautausschlag, der leicht juckt und nach paar Wochen immer noch da ist.
Eigentlich versucht David, alle Probleme soweit möglich online zu lösen. Über TeleClinic hatte er sich letztens untersuchen lassen, als er Erkältungssymptome hatte und nicht in eine Praxis wollte. Er nimmt die Corona-Regeln ja ernst. Die Krankschreibung bekam er dann pandemiebedingt auch sofort. Nur: Diese Hautstelle würde selbst er, der er seit zwei Jahren keine Kleidung mehr im Geschäft gekauft hat, weil er bei AboutYou bestellt, nicht einfach so in die Webcam seines Laptops halten. Also googelt er nach „Dermatologie“ und seine Postleitzahl. Und siehe da: Es gibt eine Praxis drei Straßen entfernt – mit einer schicken Webseite und einem Terminbuchungs-Tool. In drei Tagen um 10:00 ist was frei: Gebongt! Das angeblich komplizierte und rückständige deutsche Gesundheitssystem ist offenbar besser als sein Ruf, stellt er für sich fest.
Als David dann in der Praxis an den Empfangstresen tritt, merkt er allerdings, dass die Einschätzung vielleicht etwas voreilig war. „Schneider? Um zehn ein Termin?“ Die Dame am Empfang weiß von nichts. „Auf der Webseite gebucht? Moment mal.“ Sie dreht sich zu ihrem Kollegen um: „Kann man bei uns Termine online reservieren?“ Es stellt sich raus: Das Buchungstool wurde letztes Jahr mit der neuen Webseite installiert. Danach überwarfen sich aber die Ärzten mit dem Dienstleister und seitdem werde die Seite nicht mehr aktualisiert. „Nächster freier Termin? In drei Monaten. Oder Sie kommen übermorgen früh zur offenen Sprechstunde. Am besten gleich um 8:00 Uhr, damit Sie auch drankommen.“
Wir könnten David weiter durch die wirre Systemlandschaft des deutschen Gesundheitswesens begleiten: Zum „Arztlotsen“ der Ersatzkassen, zum Beispiel, der einst mit großen medialen Tamtam an den Start ging, aber im Grunde genommen nur die Funktionalität von Google oder Jameda nachbildet; oder zur Arzttermin-Service-Hotline seiner Krankenkasse, die ebenfalls bei der Vermittlung von Facharztterminen helfen soll, deren Mitarbeiter aber unserem Protagonisten frühestens in zwei Wochen einen Termin (allerdings beim selben Dermatologen) anbieten kann – oder einen in vier Tagen, aber am anderen Ende der Stadt; oder zum Aggregator arzttermine.de, bei dem keiner der gelisteten Hausärzte über das Tool überhaupt Termine entgegennimmt…
Das lassen wir aber und gesellen uns wieder am übernächsten Tag zu David, der jetzt noch ziemlich benommen um 8:15 Uhr im Wartezimmer der Dermatologiepraxis sitzt und sich fragt, wie zur Hölle es sein kann, dass das Wartezimmer schon so voll ist. Es half ja nichts. Er musste in den sauren Apfel und zur offenen Sprechstunde herkommen. Nach zwei quälenden Stunden Scrollen auf dem Handy – es wird ihm so langweilig, er blättert sogar durch den drei Wochen alten Stern vom Leserkreis – ist er dran. Er lässt die Hose runter. Diagnose: Hautpilz. Ursache: typische Sportlerkrankheit. Therapie: Creme von der Apotheke. Zehn Minuten später steht er wieder vorm Empfangstresen: „Wir hatten heute ein Software-Problem und konnten die Krankenversichertenkarten nicht einlesen. Wären Sie so freundlich, nächste Woche mal mit ihrer Karte kurz reinzuschauen?“ Zum Glück hat er die Praxis in der Nähe genommen!
Meine Einschätzung zufolge wird das Fallbeispiel von David noch ziemlich lange so aussehen. Ob durch die Krankenkassen oder von einem Plattform-Anbieter: Eine zentrale Terminsteuerung für alle niedergelassene Ärzte – oder auch nur einen ausreichenden Anteil davon – ist derzeit utopisch. Vor allem in unterversorgten Bereichen wie Dermatologie wird noch auf Jahre hinaus der frühe Vogel den Wurm fangen.
Was aber durchaus passieren kann: David Schneider ist so genervt, dass er sich entscheidet, doch vor den Online-Ärzten von TeleClinic die Hose runterzulassen. Zumal diese ihm bald für die Anti-Pilz-Creme ein E-Rezept werden ausstellen dürfen, das er wiederum bei einer Versandapotheke einlösen kann. Bis Ende des Jahrzehnts könnte es sogar sein, dass seine Krankenkasse eine App zur Einordnung und Erstdiagnostik von Hautausschlägen anbietet… Aber der Bereich Symptomchecker/KI wäre etwas für eine weitere Artikelserie!‘
Ab sofort kann das Buch vorbestellt werden: https://www.amazon.de/Digitaler-Puls-Gesundheitsmarkt-digital-handeln/dp/3456860803/